Als ich in meiner Gemeinschaft erwähnte, dass ich zum heutigen Fest "Allerheiligen" ein Geistliches Wort halten dürfe, rief meine älteste Mitschwester spontan: "Das ist ganz leicht! Du sagst einfach, dass du mit neun Heiligen zusammenlebst. Und dass jede ihre eigene Macke hat!" Herzhaftes Lachen war die Antwort, aber: Hat sie nicht Recht? Immerhin ist diese Schwester 87 Jahre alt. Sie weiß sehr wohl, wie gebrochen unser Alltag ist und dass keine von uns vollkommen ist. "Jede hat ihre eigene Macke" – sagt sie mit ungetrübtem Blick auf die Realität. In ihrem langen Leben hat sie offenbar ein Verständnis von Heiligkeit erworben, das das Heilige mit dem Unvollkommenen verbindet. Und das ist ein Gedanke, über den es sich lohnt, noch etwas nachzudenken.
Normalerweise definiert sich das Heilige gerade durch seine Trennung vom Profanen: das Heilige als der Ort, der – in welcher Religion auch immer – mit Gott zu tun hat, und das Profane eben der alltägliche Rest des menschlichen Lebens.
Und dieser abgesonderte Ort, das Heilige, zeichnet sich aus durch einen eigenen Duft, ein besonderes Licht, durch Riten und Gesänge, durch Zeichen eben, die eine andere Welt in den Blick nehmen. Schon durch die Fremdheit kann der heilige Ort ein Gefühl der Ehrfurcht wecken.
Für manche Menschen, die in ihrem Alltag kaum zum Aufatmen kommen, ist so ein ausgegrenzter heiliger Bezirk oft ein Zufluchtsort – gerade weil er anders ist als ihr Lebensort, an dem sie sich so sehr plagen müssen.
Bei so einem ausgegrenzten heiligen Bezirk könnte der Eindruck entstehen: Das Heilige sei eine heile Welt für sich, in der mein Alltag nichts mehr zu sagen hat. Genau das wollte aber meine Mitschwester mit ihrem Zwischenruf nicht sagen. Ganz im Gegenteil! Sie behauptet ja: Jetzt und hier sind die Heiligen. Jetzt und hier sind die Menschen, die in sich das Heilige tragen. Daher tut sich hier ein Raum der Heiligkeit auf, der eben keinen eigenen Duft hat, keine besonderen Lichtverhältnisse, keine Riten und Gesänge – wie sinnvoll und schön solche separaten Räume der Heiligkeit ja auch immer sein mögen.
Für meine Mitschwester steht fest: Heiliges und Profanes greifen ineinander. Und nur so gerät der Mensch in den Blick mit all dem, was ihn ausmacht. Und ist das nicht genau die christliche Botschaft?
Heiliges und Profanes greifen ineinander. Schon in der Menschwerdung Gottes hat sich Gott, der Heilige schlechthin, unwiderruflich mit dem Profanen verbunden und den Alltag des menschlichen Lebens geheiligt. Seitdem kann sich das Profane nicht mehr über die Abwesenheit des Heiligen definieren, sondern höchstens darüber, den Heiligen nicht zu erkennen, der darin anwesend ist. Es gibt keinen Ort auf dieser Erde, an dem Gott nicht wäre. Es gibt höchstens Orte, wo er nicht erkannt und anerkannt wird.
Ebenso gibt es keinen Menschen auf dieser Erde, in dem Gott nicht anwesend wäre. Dieser Satz weckt vielleicht erst einmal Widerstand angesichts so vieler Menschen, an denen nur sehr schwer Heiliges zu erkennen ist. Menschen, die andere quälen, verfolgen, töten. Und doch bin ich davon überzeugt, dass er stimmt: Es gibt keinen Menschen, in dem Gott nicht anwesend wäre.
Und daher hat heilig werden mehr damit zu tun, Gottes Anwesenheit in mir zu erkennen und zuzulassen, als irgendwelche Haltungen einzuüben, die vielleicht nur mein Erscheinungsbild nach außen verändern. Gott in mir zuzulassen heißt dann auch, mich so anzunehmen, wie ich bin. Deswegen muss ich noch lange nicht über all meine "Macken", die ich nun mal habe, glücklich sein. Aber sie leugnen, macht es nicht besser. Um die anderen so, wie sie sind, annehmen zu können, muss ich zuerst lernen, mich selbst wirklich anzunehmen so, wie ich bin.
Der Münsteraner Religionsphilosoph Klaus Müller bringt es genau auf den Punkt. Er schreibt: "Was die Heiligen zu Heiligen macht, ist, dass sie ihre Stärken leben und ihre Schwächen ertragen."(1) Kurz vorher beschreibt er ein spannendes Experiment: Ein Graphologe – also einer, der aus der Handschrift eines Menschen etwas über dessen Persönlichkeit herauslesen kann – untersuchte Kopien von zwei handschriftlichen Briefen, ohne zu wissen, wer diese Briefe geschrieben hatte. Er wusste nur, dass es ein Mann und eine Frau waren. Über den Schreiber des ersten Briefes las er unter anderem heraus, er sei wohl ein sehr nervöser und auch unsicherer Mensch gewesen, mit der Neigung zu Jähzorn und sogar Ausfälligkeiten, er könne verletzend sein, aber auch einfühlsam und gütig. Der Verfasserin des zweiten Briefes bescheinigte er zum Beispiel ein gewisses Selbstbewusstsein und Kreativität, Klugheit, aber auch einen Hang zur Herrschsucht und eine Neigung hysterisch zu werden, wenn es nicht nach ihrer Vorstellung läuft.
Der eine Brief war vom heiligen Franz von Assisi und der andere von der heiligen Teresa von Avila. Die vielen überlieferten Erzählungen aus dem Leben der beiden bestätigen durchaus das Urteil des Graphologen. Franz von Assisi hatte durchaus seine eigenen Macken, aber dennoch ist er ein großer Heiliger geworden. Er hat mühsam gelernt, seine Stärken zu leben und seine Schwächen zu ertragen. Und Teresa zeigt in ihrer Geschichte wirklich eine stark dominierende Art und leicht hysterisches Verhalten, zudem sie sich aber auch stellt und daran arbeitet. Das sage ich nicht, um diese Heiligen kleiner zu machen, sondern um Mut zu machen. Heil werden, heilig werden geschieht in der Annahme meiner Selbst, mit allem, was dazugehört.
Vor kurzem lernte ich, dass das chinesische Schriftzeichen für "heilig" aus drei Elementen besteht: aus den Zeichen für Ohr, für Mund und für König. Eine Komposition von Zeichen, die durchaus ins Nachdenken bringt. Ich wage mal eine Deutung: Heilige sind Menschen, die hören, was der König sagt, und das, was sie gehört haben, weitersagen und tun. Und indem sie so leben, gewinnen sie selbst eine königliche Würde. Etwas vom Glanz des Königs strahlt aus ihnen selbst.
Und in einem theologischen Buch fand ich passend dazu die Definition: Heilige sind Menschen, die ihre ganz persönliche Sendung im Leben erfüllt haben. Sie müssen nicht perfekt sein und alles können. Sie haben einen ganz bestimmten Auftrag von Gott her in ihrer Zeit und Welt. Und wenn sie den erfüllen, bringen sie Gott selbst in ihre Zeit und Welt. Das macht dann ihre Heiligkeit aus. Genau das meint auch das chinesische Schriftzeichen: hören, was Gott, der König, von mir erwartet, und durch mein Leben weitersagen, was ich von ihm gehört habe. Und das, was von Gott, dem König, hindurchstrahlt, verleiht dann den Glanz der Heiligkeit.
Heilig werden geschieht also nicht im abgegrenzten Raum, sondern gerade in meinem ganz alltäglichen Leben, im ganz Profanen. Und dazu gehören unzählige Menschen, deren Namen in keinem Heiligenkalender zu finden sind. Mir fallen dazu zahlreiche Menschen ein: Menschen in meiner Lebensgeschichte, in deren Nähe ich mich frei fühlen konnte. Menschen, die es mir leicht machten, mich für Gutes zu entscheiden. Menschen, die mich getröstet haben in ausweglosen Situationen. Menschen, die in einem entscheidenden Moment treu zu mir gestanden haben. Ganz einfach Menschen, die mir Lebensraum geschenkt haben.
Und in all den Begegnungen mit ihnen strahlte für mich etwas von dem durch, der das Leben selbst ist: Gott selbst. Natürlich kenne ich von diesen Menschen auch einige Macken und Bruchstellen. Aber sie haben in den entscheidenden Momenten ihre Stärken gelebt und ihre Schwächen getragen. Alltagsheilige eben, deren Fest wir heute feiern. Noch einmal mit Klaus Müllers Worten gesagt: Die Stärke zu leben und die Schwäche zu tragen, das geht nur im Vertrauen darauf, dass Gott mich so angenommen hat, wie ich bin. "Das Gottvertrauen ist das ganze Geheimnis der Heiligkeit."(2)
Wie schön, dass es dieses Fest gibt: Allerheiligen! Es lohnt sich, die Heiligen zu suchen, die zu meiner eigenen Lebensgeschichte gehören, deren Gesicht ich kenne und deren Leben mit meinem verknüpft ist. An sie alle darf ich heute denken und Gott für sie danken.
Dieses Fest macht übrigens noch etwas anderes deutlich: Das Christentum ist eine Religion der Gemeinschaft! Das ganze Jahr hindurch werden nämlich im Heiligenkalender einzelne individuelle Heilige vorgestellt, die mich begleiten können und mir in irgendeiner Weise Vorbild sind. Es sind keine Schablonen von vorgefertigten Mustern, sondern ganz konkrete Menschen mit ihrer je eigenen Lebensgeschichte. Und die zu feiern, nicht nur als Einzelne, sondern auch als Gemeinschaft aller Heiligen, darum geht es heute an Allerheiligen. Dabei wird jeder Einzelne geachtet – auch mit seiner vielleicht je eigenen Macke.
Anmerkungen:
(1) Klaus Müller, Gottes ABC, Gedanken und Texte zum Lesejahr B, Münster 2015, S. 335.
(2) Klaus Müller, Gottes ABC, S. 338.
Text: Sr. M. Ancilla Röttger
Foto: Michael Bönte, Kirche+Leben