Die alte Frau, die auf dem Bett liegt, hat sich gegenüber auf der Fensterbank ein paar Bildchen hinstellen lassen. Sie ist im Hospiz, mit fast neunzig Jahren, und weiß, dass sie bald sterben wird. Die Bildchen, von Heiligen, und eine geschnitzte Figur von Maria, der Mutter Jesu, stehen extra so, dass sie sie im Liegen gut sehen kann. "Ich guck schon ’rüber", sagt sie und lacht dabei. Mit "rüber" meint sie nicht nur den Fenstersims mit den frommen Gegenständen, sondern irgendwie auch das, wofür die stehen: eine andere Welt, etwas, das sie zu erwarten scheint, worauf sie gerne schon mal einen Blick wirft.
Diese Frau habe ich kennen gelernt vor fünf Jahren in der letzten Phase ihres Lebens. Kurz vor dem Tod ließ sie ihre vier Kinder, die schon längst keine mehr waren, und deren Ehepartner zu sich ans Sterbebett kommen. Für jedes hatte sie ein persönliches Wort. Ohne drum herum zu reden, hat sie sich bewusst verabschiedet. Natürlich flossen da die Tränen. Aber es war gut. Als sie wenige Tage später starb, hatten alle irgendwie das Gefühl, dass sie jetzt "drüben" ist. Wie man es nur selten erlebt, hatte diese alte Frau das Zeitliche gesegnet: den Blick schon halb "drüben" noch einmal dankbar zurückgeschaut und Gutes gesagt über dieses Leben und ihre Kinder, die da vor ihr standen. Das heißt segnen nämlich wörtlich: gutes sagen, bene-dicere.
"Die Gestalt dieser Welt vergeht", heißt es in der Bibel einmal (1 Kor 7, 31). Das schreibt Paulus an die Gemeinde in Korinth. Und liest man die Sätze drum herum, merkt man, er will die Leute daran erinnern, dass "das letzte Hemd keine Taschen hat", wie ein Sprichwort sagt. "Die Gestalt dieser Welt vergeht". Das weiß man spätestens ab vierzig, wenn plötzlich nach ein paar Stunden Gartenarbeit der Rücken und sämtliche Muskeln einzeln zu spüren sind. Der Körper verfällt zusehends.
Aber auch wenn ich heute in mein Heimatdorf zurückkomme und fast nichts mehr so ist, wie es einmal war, dann sehe ich auch da, dass die Gestalt dieser Welt vergeht. Diese ständigen Veränderungen weisen darauf hin, dass irgendwann alles vergeht. Alles ist nur vorläufig. Mein Körper, meine Heimat, die Natur, mein ganzes Leben. Deswegen muss man nicht in Endzeitpanik verfallen, wie es die Menschen regelmäßig zu Jahrtausendwenden getan haben.
Aber wenn mir bewusst ist, dass alles ein Ende hat, dann ist das erstens ziemlich tröstlich. Weil dann auch die großen Ungerechtigkeiten dieser Welt einmal zuende gehen werden. Und zweitens lässt es mich intensiver leben, weil ja die Zeit begrenzt ist. Am Ende eines Jahres ist in Betrieben meist die Zeit für die Inventur. Man zieht Bilanz und schaut, was noch da ist.
Für die Christen fängt ja nicht erst am ersten Januar das neue Jahr an, sondern nächste Woche, mit dem Advent. Diese letzen Tage davor wollen daran erinnern, dass die Gestalt dieser Welt vergeht. Dass eines Tages Jesus Christus wiederkommt. Eine schöne Gelegenheit, zu fragen: Wie fällt die Bilanz meines Lebens aus? Was habe ich verwirklicht von meinen Möglichkeiten? Was wartet noch darauf, gelebt zu werden? Was bleibt von meinen Mühen? Was nehme ich mit nach "drüben"?
Text: Martin Sinnhuber
Foto: Michael Bönte, Kirche+Leben