Du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen (Mk 8,33), sagt Jesus in einer Szene zu Petrus. Woher aber soll dieser genau wissen, was Gott will? Er kennt die Gebote vom Sinai, die jüdische Bibel mit den Weisungen Jahwes und die vielen Gesetze des Landes. Die Vorstellung vom Willen Gottes bleibt trotzdem vage und geheimnisvoll, auch für uns.
In relativ geschlossenen christlichen Milieus war der "Wille des Herrn" lange Zeit fast identisch mit den herrschenden Ordnungsvorstellungen und Verhaltensregeln: Was sein muss und was sich gehört, was ordentlich und sauber ist! Der "Herrgott", der Gott unserer Väter, war Garant der bürgerlichen Ordnung und auch die oberste moralische Instanz einer autoritär-patriarchalisch verstandenen Kirche.
Der "Wille des Herrn" war für politische und pädagogische Zwecke leicht zu manipulieren. Die Untergebenen und Abhängigen hatten zu gehorchen und zwar "aufs Wort". Erzieher (Eltern, Priester, Lehrer) repräsentierten den Willen Gottes und hatten dafür zu sorgen, dass er "geschieht". Kindern wurde früh ihre "Eigenwilligkeit" ausgetrieben. Sie hatten sich den Erwachsenen unterzuordnen.
Die antiautoritäre Bewegung suchte dann das andere Extrem zu idealisieren, allerdings im Namen einer aufgeklärten Pädagogik, die sich nicht mehr auf den Willen Gottes berief. Macht und Machtmissbrauch haben sich nur verschoben.
Heute erfolgt wieder eine Korrektur der "repressionsfreien Erziehung". Kinder sollen wieder als Kinder und nicht als partnerschaftlich ebenbürtige kleine Erwachsene gesehen und behandelt werden. Sie brauchen vorsichtige Steuerung von außen, vor allem Grenzen, die sie zu respektieren lernen, weil sie die Teilhabe "an allem" psychisch überfordert.
Michael Winterhoff – ein erfahrener Kinder- und Jugendpsychiater ("Wenn unsere Kinder Tyrannen werden") sagt: "Kinder müssen Kinder sein dürfen. Erwachsene müssen Erwachsene sein wollen." Er wendet sich gegen die Abschaffung der Kindheit und weist auf den Irrtum hin, Kinder würden sich ohne Regeln und Disziplin, ohne Gebote und Verbote von selbst entwickeln und entfalten. Er kennt die Folgen: Seelische Unreife, Beziehungsstörung und Arbeitsunfähigkeit Heranwachsender.
Menschen brauchen Hilfen zur Menschwerdung. Lebens- und Verhaltensweisen wollen eingeübt und trainiert werden. Es ist die "Pädagogik Gottes" seit biblischen Urzeiten. Vor allem die Periode des Wüstenzuges gilt als Erziehungszeit Israels, in der das Volk Gottes "bindungsfähig" (gemacht) und für den Bund am Sinai "partnerfähig" werden sollte. Die Bundesweisungen Jahwes (Zehn Gebote!) sind als Leitplanken gedacht, damit Menschen seinem Willen gemäß "in Gottes Freiheit" (Adolf Exeler) zu leben lernen.
Religiöse Erziehung will zu diesem Gott der Hebräer und dem Vater unseres Herrn Jesus Christus hinführen, gottbereit machen und dadurch für ein menschenwürdiges Miteinander stärken. "Gib mir Einsicht, damit ich lebe" (Ps 119, 144) – Einsicht in diesen Sinn deiner Weisungen und Gesetze, beten Juden und Christen.
Nicht zusätzliche Forderungen sollen unser Leben belasten, sondern göttliche Gebote, die uns zu leben helfen. Erziehung geschieht aus Liebe zum Kind. "Gott ist die Liebe" (1 Joh 4,16). Er zwingt nichts auf, sondern ruft und lädt ein, lockt ins wahre, befreite Leben, ins Eigensein. Es begann in Israel, unterwegs, in der Wüste und im Exil. Viele Male hat er gesprochen durch seine bevollmächtigten Sprachrohre; am Ende sandte er seinen Sohn (s. Hebr 1,1 f.). Seitdem die Kernforderung: "Seine Stimme hören!"
Denn Jesus verkörperte den Willen Gottes wie kein anderer vor oder nach ihm. So unsere Glaubensüberzeugung. Sein Auftrag war, "den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat" (s. Joh 4,34/5,30). "Er hat uns das Geheimnis seines Willens kundgetan" (Eph 1,9).
Die Visionen und Verheißungen der so genannten Bergpredigt enthalten keine konkreten Verhaltensanweisungen, die direkt "umzusetzen“ wären. Daher der Spruch "Mit der Bergpredigt lässt sich keine Politik machen" (Helmut Schmidt), aber ihre mächtigen Impulse bewegen uns, unsere privaten Drehkreise zu verlassen. Leben und Sterben Jesu, sein Einsatz für die Bedürftigen (für uns) machen ihn zum Maßgebenden schlechthin. Zumindest für Glaubende, die seiner Weisung und Spur folgen. "Was er euch sagt, das tut" – die Worte Marias beim Kana-Wunder (s. Joh 2) – drängen uns, "seine Stimme zu hören" und uns von ihm in konkreten Entscheidungen etwas sagen zu lassen. Beides will eingeübt werden.
Dazu gehört auch das Beten, "wie der Herr uns zu beten gelehrt hat: Vater unser im Himmel, dein Wille geschehe!" Gott – als die alles bestimmende Macht auch in meinem persönlichen Leben? "Heiligung" als Endziel, als sein Wille für mich (1 Thess 4,3)? Dazu das "Heilwerden" von Verhältnissen und Strukturen, die "böse" sind, weil sie Frieden und Gerechtigkeit verhindern.
Auch Verhalten und Wirken Jesu zeigen, dass sich dieser "Heilswille" Gottes nicht wie eine anonyme Wirkmacht durchsetzt, und nicht gegen unsere Freiheit und Verantwortung geschieht.
Das Ineinander göttlichen Wirkens und menschlicher Freiheit ist nicht zu klären. Vorsicht mit der Vorsehung! Wir unterliegen keinem Schicksalsglauben und sind nicht bloße Instrumente in der Hand anonymer Mächte. Gott begegnet uns als das große geheimnisvolle alsolute Du, das uns nicht beherrschen oder kleinmachen will. Israel hat in seiner Geschichte die wohltuende "Führung" dieses Gottes erfahren.
Christen sind verbunden mit dem verklärten himmlischen Christus, der diejenigen, die auf seine Stimme hören, von Fall zu Fall wissen lässt, was Gott von ihnen will. Wir üben uns darin ein, wenn wir täglich darum bitten, dass Sein Wille an uns und in dieser Welt "geschieht".
"Befiehl dem Herrn deinen Weg und vertrau ihm; er wird es fügen" (Ps 36,5). Oder: " Was Gott tut, das ist wohlgetan, es bleibt gerecht sein Wille"(GL 294). – Elementare Gebete und gläubig grundierte Gesänge.
Sich "ungerechtem" und unergründlichem Leiden zu überlassen, war immer schon die größte Herausforderung des Gläubigen: "Mein Gott, mein Gott, warum?" (s. Ps. 22,2). Es waren auch die Worte vieler "Gerechter" in der Geschichte Israels und des gläubigen Juden Jesus: "Nicht, was ich will, sondern was du willst, soll geschehen" (Mk 14,36), sagt er kurz vor seiner Hinrichtung. Worte eines Gläubigen, der immer schon betete: "Du hältst mein Los in deinen Händen" oder " in deine Hände lege ich meinen Geist". Gottergebenheit im Lebensraum der Gottesherrschaft!
Die großen Leidenden können so mit Jesus sprechen, wenn sie sich in sein inniges Gottesverhältnis hineinziehen lassen. Selbst Petrus musste wohl lange "gläubig trainieren", bis er die Vaterunserbitte, dass "Sein Wille geschehe" mit ganzem Herzen beten konnte, ein Leben lang lernen, zu denken und danach zu handeln, was Gott will, und Jesus gottergeben bis in sein Todesgeschick hinein zu folgen.
Manchmal kennen wir Gottes Willen, manchmal kennen wir nichts. Erleuchte uns, Herr, wenn die Fragen kommen. (GL 299)
Paulus schreibt am Ende seines ersten Briefes:
Das will Gott von euch: Freut euch zu jeder Zeit, betet ohne Unterlass, dankt für alles! (1 Thess 5,18)
Text: Dr. Hermann-Josef Silberberg
Foto: Michael Bönte, Kirche+Leben