Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten sprengt alle menschliche Erfahrung. Die Christen der ersten Jahrhunderte versuchten, sich des Neuen, das ihnen in Christus begegnet, bewusst zu werden und ihm Ausdruck zu geben. Sie bedienten sich dabei bekannter Bilder ihrer Kultur. Einige dieser Bilder finden wir in den Katakomben, den frühchristlichen Grabstätten in Rom.
Mehrfach kommt dort das Bild des Orpheus vor, des Sängers und Kithara-Spielers. Von ihm erzählt die alte Sage, dass er sich nach dem Tod seiner Frau Eurydike in das dunkle Reich des Todes wagt, um sie zurückzuholen. Er vertraut dabei auf die Macht seines Liedes, das die Menschen zum Leben ruft.
In diesem Bild des Orpheus sehen die Christen Jesus Christus. Er ist der Erstgeborene von den Toten, der Führer auf dem Weg des Lebens. In seiner Auferstehung von den Toten stimmt er das Lied des Lebens an und lädt uns ein, in dieses Lied einzustimmen und ihm zu folgen.
Wenn wir zu Ostern die Lieder der Auferstehung und des Lebens singen, vergessen wir nicht die Wirklichkeit, in der wir leben. Jesus Christus trägt auch nach seiner Auferstehung die Wundmale an seinen Händen, seinen Füßen und in seiner Seite, die Zeichen des Leidens und des Todes. Leid und Tod sind eine Wirklichkeit in seinem Leben. Leid und Tod sind eine bedrückende Wirklichkeit auch in unserem Leben. Doch der auferstandene Herr zeigt uns: Der Tod ist nicht das Ende. Er hat nicht das letzte Wort. Jesus hat Macht über den Tod. Er stimmt das Lied des Lebens an. Deshalb dürfen wir am Osterfest in froher Hoffnung in dieses Lied einstimmen: "Jesus hat den Tod bezwungen und uns allen Sieg errungen. Halleluja, Jesus lebt!"
Schauen wir noch einmal auf das Bild des Orpheus. Er wird dargestellt mit seinem Instrument, mit der Lyra oder Kithara. In der anderen Hand hält er das Plektron, ein Stäbchen, mit dem er die Saiten zum Klingen bringt.
Die Lyra Jesu, so deuten manche Kirchenväter das Instrument, auf dem sein Lied erklingt, ist die christliche Gemeinde. Das Plektron, das Stäbchen, mit dem er die Saiten zum Klingen bringt, ist der Heilige Geist. Das Lied Christi, das Lied des Lebens, das Gottes Geist erklingen lässt, singt der Einzelne nicht allein. Es erklingt in der Gemeinschaft der Kirche.
Mit der Auferstehung Christi von den Toten beginnt Gott eine neue Initiative für das Leben. Gottes Initiative schenkt Zukunft. Wir sollen seine Initiative mittragen. Deshalb werden wir in der Osternacht eingeladen, dem Bösen und der Kultur des Todes abzusagen und ja zu sagen zum lebendigen Gott und zu dem Leben, das er uns schenkt. Mit diesem Ja stimmen wir in das Lied der Auferstehung und des Lebens ein. Wir verkündigen das Evangelium des Lebens. Wir dienen dem Evangelium des Lebens. Wir feiern das Evangelium des Lebens, auch und besonders am Osterfest.
Text: Bischof Reinhard Lettmann (+)
(aus dem Buch: Reinhard Lettmann: Strahlen verborgenen Lichtes – Worte voll Kraft und Hoffnung,
Verlag Butzon&Bercker, Kevelaer, 1997),
Foto: Michael Bönte, Kirche+Leben